„Die Arbeiter müssen ihre Macht aus der Produktion nutzen“

Interview mit der türkischen Gewerkschafterin Zeynep Ekin

Nach der Verhaftung des türkischen Oppositionsführers Ekrem Imamoglu kam es in der Türkei zu Massen-Protesten gegen den Präsidenten Erdogan. Das Regime schlug zurück und verhaftete mehr als 2.000 Demonstranten. Auch türkische Gewerkschafter:innen befinden sich im Visier staatlicher Repression. Im März wurde der gesamte Vorstand der Lehrergewerkschaft unter Hausarrest gestellt, nachdem er sich mit den gegen die Inhaftierung Imamoglus kämpfenden Studenten solidarisiert hatte. Am 1. Mai wurden in Istanbul mehr als 400 Kolleginnen und Kollegen verhaftet. Im Interview gibt Zeynep Ekin eine Einschätzung der Entwicklung in der Türkei. Sie ist türkische Gewerkschafterin und Projekt-Koordinatorin bei IndustriAll Global Union.

Frage: Was ist Deine Einschätzung der aktuellen Bewegung gegen das Erdogan-Regime nach der Inhaftierung von Imamoglu. Unter welchen Umständen hat sie Aussicht auf Erfolg?

Z. E.: Zunächst einmal ist diese gesellschaftliche Opposition keine Bewegung, die über Nacht entstanden ist, und es geht auch nicht nur um die Verhaftung von İmamoğlu. Ein tiefes und langanhaltendes Gefühl der Wut und Verzweiflung – vor allem unter der Jugend – hat sich schon seit geraumer Zeit aufgebaut. Die meisten Studenten sind sich bewusst, dass sie nach ihrem Abschluss wahrscheinlich arbeitslos werden oder zu schlecht bezahlten Jobs verdammt sind. Die Frustration der heutigen Jugend rührt nicht nur von der Angst vor der Zukunft her; wie bei der Arbeiterklasse ist sie in der harten Realität ihres derzeitigen Alltags verwurzelt. (…)

Die AKP ist seit langem dabei, ein neues Regime zu errichten. Die Ernennung staatlich eingesetzter Verwalter anstelle gewählter Beamter, die Vergewaltigung des Volkswillens und die Aufhebung der Immunität kurdischer Abgeordneter – all dies sind keine neuen Entwicklungen in der Türkei. Derartige Übergriffe richteten sich zuvor jahrelang gegen die kurdische Bewegung, und seit langem wird davor gewarnt, dass sich diese Repression schließlich auf die gesamte Opposition ausweiten würde. (…)

Die Antwort auf die Frage, welche Bedingungen einen Erfolg ermöglichen, hängt davon ab, wie wir Erfolg definieren. Aber eines ist klar: Es ist wichtig, über eine Politik hinauszugehen, die sich ausschließlich auf Wahlen konzentriert. (…) Ja, Wahlen in der Türkei sind von entscheidender Bedeutung, aber wir sind in eine Phase eingetreten, in der selbst die Durchführung von Wahlen nicht mehr möglich ist.

Was wir erleben, ist Neofaschismus. Das Regime hat die Haltung eingenommen: „Entweder du bist auf meiner Seite oder du bist ein Verräter“. Es versucht zu überleben, indem es ständig Bedrohungen für seine Existenz fabriziert – und das tut es, indem es die Kontrolle über die Justiz ausübt. Inmitten all dieser Gesetzlosigkeit fährt sie fort, öffentliches Land und Vermögen an ihre eigene Kapitalistenklasse zu verschenken.  

Frage: Welche Rolle spielen die türkischen Gewerkschaften in dieser Bewegung?

Z. E.: In der Türkei ist eine einheitliche oder übergreifende Einschätzung der Arbeiterbewegung wegen der stark zersplitterten Struktur der Gewerkschaften – sowohl politisch als auch organisatorisch – unmöglich. 1

Klar ist: Solange die Arbeiterklasse das tägliche Leben nicht zum Stillstand bringt, bleiben die Machthaber unerschüttert. (…) Im ganzen Land mehren sich die Rufe nach Generalstreiks und breitem Widerstand. Bloße Konsumboykotte reichen nicht aus, die Arbeiter müssen auch ihre Macht aus der Produktion nutzen. Arbeitsverweigerung durch militantere Gewerkschaften in Verbindung mit der Unterstützung durch die Gewerkschaften des öffentlichen Sektors könnte die Wirkung des Widerstands erheblich verstärken.

Natürlich kann ein Generalstreik angesichts des derzeitigen gewerkschaftlichen Organisationsgrades in der Türkei das tägliche Leben nicht vollständig zum Stillstand bringen. Eine solche Mobilisierung wäre jedoch trotz der tiefen Spaltungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung selbst ein starkes politisches Zeichen.

Frage: Welchen Risiken sind Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in der Türkei heute ausgesetzt? 

Z. E.: In der Türkei sind Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die sich nicht auf die Seite des Staates, des Regimes oder des Kapitals stellen, der ständigen Gefahr ausgesetzt, verhaftet zu werden. Weder der Staat noch das Kapital dulden eine kämpferische Arbeiterklasse. (…) Besonders akut ist diese Gefahr für unabhängige Gewerkschaften und Pioniergewerkschaften, die nicht den großen Gewerkschaftsbünden angehören. Arbeitnehmer, die protestieren, die willkürlich ohne Entschädigung entlassen wurden oder die ihre Rechte vor den Werkstoren einfordern, werden häufig mit Polizeigewalt oder sogar mit direkten körperlichen Angriffen seitens der Arbeitgeber konfrontiert.

Darüber hinaus geht es bei der Gewerkschaftsarbeit nicht nur um die Verteidigung von Arbeits- oder Arbeitnehmerrechten, sondern grundsätzlich auch um den Schutz aller Menschenrechte. (…)

Der Begriff „Terrorismus“ ist zu einer allumfassenden Rechtfertigung für Repressionen, Verbote und Verhaftungen geworden. Praktisch alle Formen des Widerspruchs werden unter dem Vorwurf des Terrorismus kriminalisiert. (…) Das Justizwesen wurde strukturell umgestaltet, wobei Staatsanwälte und Gerichte mit besonderen Vollmachten eine zentrale Rolle spielen. Einzelpersonen werden aufgrund subjektiver Anschuldigungen von Sicherheitskräften und diesen Staatsanwälten verhaftet und warten oft Jahre, bis sich die Anklagen als unbegründet erweisen.

Frage: Wie können wir als deutsche Gewerkschafter den Kampf der türkischen Gewerkschaften unterstützen.

Z. E.: Deutsche Gewerkschaften können die stärkste und sinnvollste Solidarität zeigen, indem sie eine regelmäßige und enge Kommunikation mit ihren Kollegen in der Türkei aufrechterhalten, ihre Aufrufe zur Unterstützung aufgreifen und Möglichkeiten für ein Zusammenarbeit mit Personen und Institutionen in Europa schaffen, die die politische Entscheidungsfindung in Bezug auf die Türkei beeinflussen können. Außerdem können sie den Druck auf die Kapitalgruppen in ihren eigenen Ländern erhöhen.

Im Falle von inhaftierten Gewerkschaftern kann die Solidarität verstärkt werden, indem sichergestellt wird, dass ihre Stimmen durch internationale Medienberichterstattung gehört werden. So wird ihre Sichtbarkeit erhöht. Auch die aktive Teilnahme an Initiativen wie Unterschriftenkampagnen ist wichtig. Diese Aktionen können einen entscheidenden Unterschied ausmachen.

(Fragen: Ulrich Breitbach)

In der Türkei gibt keine Einheitsgewerkschaften, sondern drei große, miteinander konkurrierende Gewerkschaftsbünde mit politischer Ausrichtung. Dazu kommen noch Gewerkschaften der verschiedenen Zweige des öffentlichen Dienstes. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums HAK-IS mit Nähe zu Erdogans AKP, auf der linken DISK in Opposition zu Erdogan und mit Verbindung zur CHP. Eine mittlere Position wird von Türk-Is eingenommen. Alle drei Dachorganisationen sind Mitglieder des Internationalen Gewerkschaftsbundes. (Anmerkung UB)

Teile diesen Post