Heribert Prantl redet Klartext zum Thema

Sicherlich einer der Höhepunkte der Konferenz war die Rede von Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter bei der Süddeutschen Zeitung. Mit seiner gehaltvollen Rede an die Delegierten wurde die rege gemeinsame Schlussdiskussion der Migrationskonferenz eingeleitet. Hier eine Zusammenfassung als kleine Osterlektüre – gut gegen Wahlmüdigkeit und für den Kopf :

Demokratie ist keine Kiste…
“ Es gibt Leute die meinen, Demokratie sei nicht sehr viel mehr als eine Kiste. 90 Zentimeter hoch und 35 Zentimeter breit. Oben hat die Demokratie einen Deckel mit Schlitz. In der Tat: Alle paar Jahre, in Deutschland immer an einem Sonntag, kommen viele Leute zu diesen Kisten. Die Kiste heißt „Urne“, also genauso wie das Gefäß auf dem Friedhof, in dem die Asche von Verstorbenen aufbewahrt wird…“ , so leitete Prantl sein engagiertes Plädoyer für gelebte Demokratie und eine neue Willkommenskultur ein. Für Heribert Prantl sind Wahltage „Geburtstage der Demokratie“, die wir alle (!) gemeinsam durch rege Beteiligung gebührlich feiern sollten.

So auch wieder am 25. Mai bei der EU-Wahl. Doch Demokratie ist für ihn mehr. Etwas, das jeden Tag stattfindet: „Demokratie ist ein Betriebssystem, bei dem alle, die in einem Land wohnen, etwas zu sagen haben: Jeder hat eine Stimme, keiner ist mehr wert als der andere, alle sollen mitbestimmen, was zu geschehen hat“.  Im Betriebssystem Demokratie haben Betriebsräte – der Name sagt es bereits – dabei eine wichtige und gesellschaftpolitische Rolle, um die Dinge in Gang zu halten und einen schweren Betriebsfehler schnellstmöglich zu beseitigen. Denn:

Ein funktionierendes Gemeinwesen darf niemanden (!) ausgrenzen

  • „Demokratie funktioniert nicht gut, wenn immer mehr Menschen nicht oder nicht mehr mitmachen, weil sie glauben, man habe ja eh keinen Einfluss.
  • Demokratie funktioniert nicht gut, wenn sich immer mehr Menschen ausklinken oder ausgeklinkt werden, weil sie keine Arbeit und das Gefühl haben, aus dem Nest gefallen zu sein.
  • Demokratie funktioniert nicht gut, wenn Hunderttausende, ja Millionen von Menschen in Deutschland wohnen, leben und arbeiten, die bei Wahlen nicht wählen dürfen, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft haben – also nicht einmal bei den Geburtstagen der Demokratie mitfeiern dürfen“.

Am Beispiel der türkisch-stämmigen Migrationen entwickelte Prantl, warum es nicht nur überfällig ist sondern sich lohnt, endlich die doppelte Staatsbürgerschaft einzuführen  – und zwar ganz ohne alle Optionszwänge und bürokratische Hürden und weder für junge noch alteingesessene Migration. Dazu gehört natürlich auch ein uneingeschränkte Wahlrecht! Sein Credo: Ein Mensch – eine Stimme!

Multikultur: Bitte nicht nur, solange man sie essen kann
„Es ist zum Verzweifeln,“ erregte sich Prantl: In der sogenannten Ausländer- und Integrationspolitik ist in den vergangenen Jahrzehnten schon so unendlich viel falsch gemacht worden. Und die Fehler wollen einfach nicht aufhören…“. In einem gekonnten Bogen problmatisierte er, die missratene Geschichte deutscher Ausländerpolitik – von den 60er Jahren bis heute. Und fordert Konsequenzen: Eine gerechte Willkommenskultur braucht vor allem Willkommensstruktur! Das heisst gleiche Rechte und  Teilhabe in einer freiheitlichen und demokratischen Einwanderungsgesellschaft: „Demokratie nimmt den Bürger so, wie er ist: mit seiner Geschichte, mit seiner Tradition, mit seinen Wurzeln und mit seiner Identität, die sich daraus ergibt“. Eine neue Willkommenskultur und eine funktionierende Demokratie muss dabei zudem vor allem die Flüchtlinge anders behandeln:

Wider die Todsünden der europäischen Politik
Mit eindrücklichen Beispielen beschrieb Prantl die aktuelle Lage im Mittelmeer. Dabei ging er vor allem auf die restriktive Rolle der EU ein, die syrische Kriegsflüchtlinge im östlichen Mittelmeer, buchstäb lich ins Meer zurück treibt. Sein Fazit: die Europäische Union ist Träger des Friedensnobelpreises… Aber nicht einmal ein bisschen Frieden, nicht einmal ein bisschen Hilfe hat sie den Flüchtlingen gebracht. … Die EU-Politik macht Sicherheitspolitik und betrachtet das Meer als Verbündeten. Das Meer ist das „Ex“ der europäischen Grenzschutzagentur Frontex.“ Seinen Appell, sich laut und vernehmlich für eine andere Flüchtlingspolitik stark zu machen, richtete er auch und gerade an die IG Metall: „Kein Mensch ist illegal!“ Gemeinsam zu beseitigen sind die Verhältnisse, die Menschen erst in Not und Illegalität hinein treiben.  Die Frage, die zu stellen ist:

In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!
Diese rhetorisch gestellte Frage beantwortet Prantl gleich selbst. Sein Vorschlag:

  • „Wie wäre es mit einer Gesellschaft, die Heimat sein kann für alle Menschen,die in ihr leben? Für alle! Wie wäre es mit einer Gesellschaft, die sich darauf besinnt, was Demokratie ist – eine Gesellschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet. Miteinander gestaltet! Miteinander!

Damit verträgt es sich nicht, wenn die Arbeit ihren Wert verliert. Damit verträgt es sich nicht, wenn immer mehr Menschen ausgegrenzt werden: Arbeitslose, sozial Schwache, Ausländer, Flüchtlinge, Einwanderer. Damit verträgt es sich nicht, wenn die deutsche Gesellschaft wieder zur Klassengesellschaft wird, eine steigende Zahl von Kindern in Armut aufwächst, es nicht mehr stimmt, dass jeder es nach oben schaffen kann, wenn er nur fleißig und begabt ist“. Das von der IG Metall eingeklagte „Gute Leben“ gibt es aus seiner Sicht nicht ohne Mindeststandards für alle – und neue gesellschaftliche Verhältnisse, die es alltäglich durchzusetzen gilt. Nach einem gekonnten historischem Abriss zur Geschichte deutscher Ausländerpolitik – von den ersten Anwerbeabkommen der 60er bis zur heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit-, verneigte Prantl dabei den Hut vor der Integrationsleistung der letzten Jahrzehnte, erbracht vorrangig durch die Migration selbst.

Denn aus Prantls Sicht hat die hiesige Mehrheitsgesellschaft leider das Wenigste dazu beigetragen. Insbesondere die offizielle Ausländerpolitik. Er plädierte deshalb an Gesellschaft und Staat, nach jahrzehntelangen Fehlern, faulen Kompromissen und Halbheiten, eine wichtige Chance nicht erneut zu verpassen. Auf die aktuelle politische Agenda – auch und gerade der Gewerkschaften – gehört die „dritte deutsche Wiedervereinigung“. Seine Forderung:

Die dritte deutsche Einheit politisch gestalten

 „Die erste deutsche Einheit begann 1949 mit der Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die zweite deutsche Einheit begann 1989 mit dem Fall der Mauer. Die dritte deutsche Einheit begann womöglich am 27. April 2010 in Hannover, als zum ersten Mal eine türkischstämmige muslimische Frau Ministerin in Deutschland wurde“. Fazit: „Deutschland hat sich verändert!“ Und es liegt nun an uns, miteinander zu klären, wie die nächsten Schritte aussehen. Das stellt uns alle vor neue Herausforderungen. Denn:

Willkommenskultur stellt alte Gewissheiten in Frage
Gelungene Integration in einer veränderten Einwanderungsgesellschaft verlangt nicht nur von der Migration und (potenziellen) Neubürgern sondern auch von den Altbürgern viel: „Die meisten Deutschen haben es sich bisher nicht bewusst gemacht, wie tief diese Änderung geht. Wir Altbürger haben, als uns klar geworden ist, dass die meisten Einwanderer nicht mehr in ihre alte Heimat zurückkehren, mehr oder weniger fordernd auf deren Integration gewartet und geglaubt, wir erbrächten unsere eigene Integrationsleistung schon damit, dass wir zum Türken essen gehen“. Faktenreich und mit plausibelen Beispielen plädiert Prantl für Gleichstellungspolitik, positive Diskriminierung, Investionen in Bildung und vor allem: mehr direkte Begegnung und einen gelungenen interkulturellen Dialog im Alltag.

Notwendig: Die Abkehr von altem Denken und mehr Respekt!
Damit interkultureller Dialog und Teilhabe gelingt, heisst es sich künftig gemeinsamer auf die Socken zu machen: „Die Crux der deutschen Ausländerpolitik bestand seit jeher darin, dass sie nicht für die Einwanderer gemacht wurde, sondern für die deutschen Wählerinnen und Wähler, für die Altbürger also, nicht aber für die Neubürger. Sie waren Adressaten der sogenannten Ausländerpolitik. Nun, nach fünf, sechs Jahrzehnten Einwanderung, muss endlich ein neuer Geist einziehen in die Ämter, in die Behörden, in Politik und Gesellschaft“. Angesagt ist Austausch und Begegnung, persönlicher Dialog auf Augenhöhe. Dabei geht es vor allem um Akzeptanz, Teilhabe und Respekt voreinander. Laut Prantl übrigens  „vielleicht ein anderes und besseres Wort“ für Toleranz und Akzeptanz.

Die Europawahlen ernst nehmen – und sich einmischen
Den Schluss seiner Rede widmete Prantl der Europawahl. Er warnte eindringlich vor Wahlenthaltung und Desinteresse und empfiehlt stattdessen aktive Einmischung: „Gewiss: Die meisten Menschen wollen Europa, aber sie wollen es anders. Wie eine andere, eine bürgernahe EU aussehen könnte, das müsste das Thema des Europa-Wahlkampfs sein. Europa braucht nicht nur Verträge und Rettungsschirme, es braucht das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger; dieses Vertrauen entsteht nur dann, wenn Europa sozialer wird als bisher, wenn es nicht nur Schutzgemeinschaft für die Finanzindustrie ist, sondern auch Schutzgemeinschaft für die Bürgerinnen und Bürger wird“.

Auch hier ist aus seiner Sicht die Rolle der Gewerkschaften zentral, darf man das Thema Europa nicht den Rechten oder bloßen Technokraten überlassen. Es gilt es den eigenen kosmoplitischen Blick zu erweitern und Gesellschaft zu öffnen: „Der Reichtum der Sprachen, der Kulturen, der Traditionen, der Religionen – er muss hineingenommen werden in unser Deutschland und in die Europäische Union“…

Das ist Willkommenskultur. Das ist moderne Demokratie.
Zukunft miteinander gestalten – darum geht es. Miteinander.

Der große Applaus und die rege Debatte des Publikums bei der Schlußdiskussion bewiesen, dass die Delegierten der 10. Migrationskonferenz sich dieser Aufgabe stellen wollen – in und mit der IG Metall. Im Gespräch auf dem Podium sowie im Dialog mit wortlustigen Delegierten: Christiane Benner, Mitglied im Geschäftsführ enden Vorstand der IG Metall, Heribert Prantl selbst sowie Jutta Kemme, leiterin des Bereichs Sozialpolitik bei Gesamtmetall. 

MG/Red.